Erinnern Sie sich, geschätzte Damen und Herren, wie dieses Stückchen Stadt ausgesehen hat, bevor das Denkmal für die Verfolgten der NS Militärjustiz errichtet worden ist? Sie sind alle hin und wieder da vorbei gegangen, nehme ich an. Es war ein unauffälliger, schmuckloses Ort. Manchmal parkten Autos da. Fand eine Demonstration in der Nähe statt, lagerten hier Tretgitter der Polizei. Leute mit einem Blick für Architektur mögen sich gefragt haben, warum der Volksgartenzaun dieses Eck aussparte.
Mit der Errichtung des Denkmals hat sich das geändert. Dieses Stückchen Stadt hat eine Bedeutung bekommen. Es ist nicht mehr eine unerklärliche Nische, es ist ein öffentlicher Raum, den wir nicht mehr nur zum Durchqueren oder zum Parken verwenden. Das Denkmal ist ein Ziel, wo Menschen hingehen
- um sich das Denkmal anzuschauen
- um auf das Denkmal hinauf zu steigen
- um die Tafeln zu lesen und sich zu vergewissern
- oder einfach um hier eine Jause zu verzehren.
Und da das Denkmal der Sockel ist, auf dem wir die fehlenden Figuren darstellen, sind alle, die schon einmal hinauf gestiegen sind, Teil des Denkmals. Und damit beteiligen sich alle an der Diskussion des Themas, dem das Denkmal gewidmet ist: Den Verfolgten der NS-Militärjustiz – auch ihren Nachkommen und in weiterer Folge uns allen. Beteiligt sind auch diejenigen, die den Zweck des Denkmals hinterfragen oder sich dagegen stellen – hier an diesem Ort. Denn diejenigen, die sich viele Jahre lang um die Errichtung bemüht haben, und diejenigen die froh sind, dass es dieses Denkmal endlich gibt, würden sich für diesen öffentlichen Ort und die ihm zugewiesene Bedeutung einsetzen und dabei viel Unterstützung erhalten.
So ist etwas Wertvolles gelungen. Nachdem die zeithistorischen Daten zusammengetragen worden sind, nachdem Gerichte Urteile gesprochen haben, nachdem eine Vielzahl von Auseinandersetzungen zu geschichtlichen Fragen und zu einzelnen Persönlichkeiten stattgefunden haben und nachdem schließlich das Parlament die notwendigen Gesetze zur Rehabilitierung der Deserteure verabschiedet hat: Es ist gelungen, eine weithin akzeptierte Sichtweise eines Stücks gemeinsamer Geschichte zu erarbeiten und ein einprägsames Bild dafür zu finden. Eines von vielen möglichen Bildern. Und die dazugehörige moralische Auffassung. Heinz Fischer hat das anlässlich der Eröffnung so ausgedrückt, jedenfalls ist das meine Erinnerung an seine Rede: Wir können nicht wissen, was wir in der Situation eines Wehrmachtsoldaten getan hätten. Aber wir wissen, was wir hätten tun sollen.
Das Buch, das wir Ihnen heute präsentieren, setzt das Ansinnen fort, an einer gemeinsamen, weithin akzeptierten Sichtweise der Geschichte zu arbeiten. Und damit die Voraussetzung für ein gutes, gedeihlichens Miteindander in einer Stadt, in einem Staat – kurz in einem Gemeinwesen zu schaffen. Denn wenn es keine Gemeinsamkeit gibt (…) dann entstehen Feindbilder, schreibt Markus Muliar in seinem Beitrag im Buch. Wenn nicht geklärt und weithin akzeptiert ist, was das Richtige zu tun gewesen wäre, kann jedeR das Richtige für sich und seine Gruppe reklamieren. Damit schiebt er gleichzeitig das „Falsche“, eine „Schuld“ einer anderen Gruppe zu.
So lebten nicht nur in meiner Heimat Vorarlberg ganze Talschaften entzweit durch gegensätzliche Sichtweisen der Geschichte des 2. Weltkriegs. Mühsam ist es da und dort gelungen, sich auf der Basis von Geschichtswerkstätten einander anzunähern und historische Fakten, gerade die lokal bedeutsamen, anzuerkennen. Oft hat das Schaffen von einem öffentlichen Raum mit einem Gedenkzeichen - auch die Auseinandersetzungen darum - dazu beigetragen, manchmal auch ein Buch. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, nur wenn die genützt wird, kann das gelingen.
Das Buch ergänzt und erweitert den physischen Raum, den wir heute gewinnbringend nutzen, um einen Gedankenraum. Leserinnen und Leser können eintreten und vielen Spuren folgen. Indem das Buch eine Vielzahl von Annäherungen an das Thema wiedergibt, die aus verschiedenen Richtungen kommen und hoffentlich ein Bild schaffen, das nicht nur für die HerausgeberInnen Geltung hat, gelingt es, ein weiteres Gemeinsames zu schaffen. Das ist zumindest meine Hoffnung.
Das Buch versammelt die Reden anlässlich der Übergabe des Denkmals an die Öffentlichkeit. Es sind lesenswerte Reden, die zusammen mit dem Denkmal selbst diesen Platz zu einem zentralen Platz der Republik gemacht haben. Es versammelt Forschungsbeiträge jener, die als HistorikerInnen dazu beigetragen haben, dass das Denkmal hier steht. Das war zähe Arbeit. Im Buch finden Sie Erinnerungen an Deserteure, die von Nachkommen aufgeschrieben wurden. Das ist ein völlig anderer Zugang als jener der HistorikerInnen. Persönliche, subjektive Erzählungen über Personen und deren Geschicke sind ein notwendiger Bestandteil eines umfassenden Bildes, das emotional packt und einen tiefen, kaum hinterfragbaren Eindruck hinterlässt.
Die Betrachtungen zum Denkmal schließen das Buch ab. Sie sind aus folgendem Grund wichtig. Sie zeigen, dass auf die Kunst – oder besser auf Künstlerinnen und Künstler Verlass ist. Alle eingeladenen KünstlerInnen haben sich der historischen Einführung oder Instruktion durch Magnus Koch unterzogen, Vera Frenkel in Kanada virtuell. Alle haben ihre Entwürfe persönlich der Jury vorgestellt (Frenkel wiederum virtuell) und waren froh, diese Möglichkeit zu bekommen. Alle haben ernsthafte, starke Projekte vorgelegt und damit die Jury vor eine schwierige und lohnende Aufgabe gestellt. Sich vorab mit den Einreichungen zu beschäftigen und sich dann einen Tag lang gemeinsam mit den Entwürfen auseinander zu setzen, war rückblickend gesehen zwar nicht wenig an Aufwand, der Dichte der Ideen und ihrer Ausformungen aber immer noch nicht ganz angemessen. Die Skulptur Olaf Nicolais ist nicht der einzige Entwurf gewesen, der hier stehen könnte.
Man kann sich fragen, woher Künstlerinnen und Künstler die Kraft nehmen, die sich in ihren Arbeiten ausdrückt. Ich möchte sagen, sie holen sie sich mitten aus der Gesellschaft und geben sie dorthin auch wieder zurück. Olaf Nicolai sagt es im Buch: Österreichische SchriftstellerInnen haben sich schnell an die Aufarbeitung der NS-Geschichte dieses Landes gemacht: H.C.Artmann, Valie Export, Ernst Jandl, Conrad Bayer, Fritz Wotruba... und natürlich Ingeborg Bachmann, die wir im Titel des Buches zitieren. Ohne die Inspiration durch Kunst, die schon da ist, hätte es neu entstehende Kunst um vieles schwerer, eine so große Dichte und Kraft zu erlangen.
Das Zurückgeben hat noch einen wichtigen Aspekt: Kunst erobert einfach dadurch, dass sie sich irgendwo festsetzt, öffentliche Räume für die Allgemeinheit zurück, die ja andauernd Gefahr laufen, privatisiert zu werden – sei es auch nur durch parkende Autos oder durch Logos und Banner, die mehr und mehr zudecken. KünstlerInnen gehen hin, besetzen Räume und machen sie wieder öffentlich: Arena, WUK und Kabelwerk; Literaturhaus, vormaliges Punzierungsamt, Filmhaus; Albertina, Theseus Tempel und eben den Ballhausplatz.
Öffentliche Räume, in denen ideologische Auseinandersetzungen stattgefunden haben und wohl weiter stattfinden werden, sind meistens gut erforscht und ziemlich sauber. Jegliche Art von Kontaminierung wird aufgearbeitet und saniert. Nichts bleibt unhinterfragt, alles wird ans Licht gezerrt – und das tut gut. Die Kunst mag Dreck als Ausdrucksmittel verwenden, Granit oder Beton, Poesie oder Musik, egal. Soweit sie ernsthaft, unerschrocken und mit Phantasie auf die Kontaminationen trifft und sie aufgreift, wirkt sie. Gemeinsam mit der Forschung, gemeinsam – oft auch gegen die Politik, gemeinsam mit den Betrachter/innen.
In diesem Buch, das wäre meine Hoffnung, sind all diese Zugänge und diese Wirkungsweisen, die sich gegenseitig verstärken können, zwischen die Buchdeckel gepackt. Und deshalb ist es hoffentlich ein wirksames Reisegepäck.