Tatsächlich verhinderten Armut und Arbeitslast in einer landwirtschaftlich so wenig ertragreichen Gegend wie Vorarlberg, dass Kindererziehung und -betreuung, so wie wir uns das heute vorstellen, überhaupt möglich waren.
Heute weiß die pädagogische Wissenschaft, dass Kinder stabile Beziehungen zu erwachsenen Personen, z.B. zu den Eltern benötigen (Bindungstheorie). Die meisten Eltern können das auch leisten, gerade dann wenn sie sich nicht zu 100% um ihre Kinder kümmern, sondern ein normales erwachsenes Leben mit Erwerbsarbeit und sozialen Beziehungen in der Erwachsenenwelt führen.
Die Pädagogik weiß aber auch, dass sich Mängel in der Primärsozialisation zu einer massiven Bildungsbenachteiligung verfestigen. So können sich Bildungsmängel und soziale Benachteilungen vererben, und das über mehrere Generationen. Diese Probleme kann gute Kinderbetreuung abfangen und beheben. Damit das gelingen kann, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein.
- Es muss das Ziel der Chancengleichheit aller Kinder auch von den Pädagog/innen als solches angepeilt werden.
- Sie müssen über das handwerkliche und wissenschaftliche Rüstzeug für ihre Arbeit verfügen.
- Sie benötigen dafür auch den entsprechenden sozialen Status und die dazugehörige Entlohnung.
Gute Kinderbetreuung eröffnet neue Chancen für alle:
- Für die Kinder, die neben ihren festgelegten Rollen zu Hause über eine „eigene“ Welt verfügen, in der nicht die Eltern regieren.
- Für die Eltern, die ihre beruflichen Interessen neben ihren familiären Verpflichtungen wahrnehmen können
- Für die Gesellschaft, deren Bildungsgrad insgesamt steigt und in der sich ein neues Segment mit hochqualifizierten Arbeitsplätzen öffnet.
Die die ideologische Verklärung der jüngeren bäuerlichen und industriellen Vergangenheit Vorarlbergs, wo die landwirtschaftliche Arbeit Eltern kaum Zeit für ihre Kinder ließ, bringt uns in der Diskussion um die bestmögliche Betreuung jedenfalls nicht weiter. Allein der zeitliche Aufwand, der notwendig war, um eine Familie durch die Landwirtschaft zu ernähren, überstieg jedes Maß heutiger Arbeitszeitregelungen.
Kinder wurden daher häufig von ihren Großeltern oder anderen Angehörigen der älteren Generation betreut, welche die zehrende landwirtschaftliche Arbeit nicht mehr in diesem Ausmaß leisten konnten. Oder die Kinder mussten – manchmal schon mit sechs Jahren – in den Nachbarregionen als Hirten arbeiten: Schwabenkinder, die sich auf Kindermärkten „verkauften“, gab es bis in die 1920er Jahre. Auch in der Industrie waren im 19. Jahrhundert bis zu einem Drittel der Beschäftigten Kinder unter 16 Jahren, viele waren unter zehn. Das bei einem Vierzehnstundentag, der erst nach 1900 vom Zehnstundentag (bei einer Sechtagewoche) abgelöst wurde.
In begüterten Familien erzogen Kindermädchen und Gouvernanten die Sprösslinge, diese waren meist Töchter aus armen Familien.
Im Vergleich zu diesen, der drückenden Armut geschuldeten Verhältnissen, kann die auf dem Hausfrauenmodell aufbauende Kleinfamilie als großer Fortschritt erscheinen. Doch es gibt Besseres. In Familien wird der soziale Status vererbt, jedes Familienmitglied wird auf eine Rolle festgelegt, der es kaum entkommen kann.
Die Bindung an zuverlässige und vertrauenswürdige Personen ist für Kinder natürlich nach wie vor wichtig. Es ist von Vorteil, wenn auch heute Großeltern eine Rolle spielen können, obgleich es grundsätzlich ohne Belang ist, ob eine Blutsverwandtschaft besteht. Die Last und die Freuden der Arbeit mit Kindern auf mehrere Schultern zu verteilen, ist jedenfalls für alle Beteiligten von Vorteil. Das Hochstilisieren der Mutterrolle hat vor allem dazu geführt, dass Mütter mit ihren Kindern von der Gesellschaft allein gelassen wurden - und Kinder mit ihren Müttern. Darüber sind wir dank den Gleichstellungskämpfen der Frauen und dank den Kinderrechtsbewegungen wohl hinweg.