Solidarität = erweiterter Egoismus?

Vortrag im Rahmen der Diskursschiene beim internationalen Künstlerinnenfestival "her position in transition" vom 4. bis zum 18. März 2006 in Wien Neubau.

"Solidarität = erweiterter Egoismus?"

In den Auseinandersetzungen zwischen neoliberal und links, zwischen Orient und Okzident, zwischen egozentrischem Weltbild und integrativ-netzwerkbildendem Denken taucht der Begriff der „Werte“ regelmäßig auf. Er wird jedoch meistens nur als Keule eingesetzt, es wird nie erklärt, um welche Werte es sich handelt, die angeblich verloren gegangen sind oder verloren zu gehen drohen. Es wird natürlich – wenn z.B. der Bundeskanzler seine wertevermissende Rolle einnimmt – implizit unterstellt, dass traditionelle christlich-soziale Werte verloren gehen (z.B. die traditionelle Familienstruktur). Die Werte selbst dürfen nicht explizit genannt werden, sonst bricht die Rolle des moralisch Überlegenen. Denn die Konservativen haben ihre Moral durchlöchert und ausgehöhlt bis auf die Fassade. Ich möchte hier ein wenig konservatives Begriffsmaterial nutzbar machen, ein paar brauchbare Werte aus der Mottenkiste der Aufklärung herausholen und abstauben, und ich möchte - keine Angst, dass wir rein der Vergangenheit verhaftet bleiben – überlegen, wie wir als Denkerinnen und als Künstlerinnen solche Begriffe weiterentwickeln und einsetzen können.

  1. Wissenschaftliches Denken Wissenschaftliches Denken ist die eigentliche Basis der Emanzipation, denn es hebelt theologische Weltbilder aus und ermöglicht das Individuum als Träger/in von (Grund) Rechten. Erst das Individuum, das seinen Platz, an den es „von Gott gestellt wurde“, verlassen konnte, stritt und streitet um eine Position in der Welt. Nach wie vor benötigen wir die Grundbedingungen von Wissenschaftlichkeit (Offenheit, Transparenz und Nachvollziehbarkeit) ein, um den Anspruch der Gleichheit zu verteidigen. Noch immer nehmen wir am unabschließbaren Prozess der Interpretation teil.
  2. Demokratie und Gleichheit Die Verfassungen der demokratischen Staaten Europas beruhen im Grundsatz auf den Werten der Aufklärung: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Die Organisation der Gemeinwesen (im allgemeinen als Politik bezeichnet) stellt den Anspruch, diese Werte zu realisieren. Ich will mich bei der Freiheit nicht zu lange aufhalten, nur so viel: Die Freiheit von Individuen ist nach wie durch Armut und mangelnde Verteilungsgerechtigkeit bedroht, zunehmend auch durch Rassismus, wie er z.B. im nun geltenden „Fremdenrechtspaket“ der Regierung zum Ausdruck kommt (z.B. Schubhaft unbefristet zu verlängern!!). Die Gleichheit vor dem Gesetz, wichtigster Grundsatz des demokratischen Rechtsstaats ist insofern interessant, als Gleichheit und Demokratie eigentlich Widersprüche sind. Demokratie basiert auf Ausschluss: wer gehört zum Demos, der herrscht? Waren es in der attischen Demokratie nur die erwachsenen männlichen, freien Staatsbürger, so hat sich daran nicht viel geändert, außer dass auch freie Staatsbürgerinnen wählen dürfen. Der liberale Grundsatz aber, dass alle Menschen gleich seien (in Form der Erklärung der Menschenrechte ebenfalls Verfassungsbaustein der Demokratien) ist mit Einschluss-Ausschluss Mechanismus der Demokratie nicht in Einklang zu bringen (Chantal Mouffe: Inklusion, Exklusion. Das Paradox der Demokratie, 2000). Diese Inkommensurabilität produziert jedoch die Energie für den Kampf um Positionen und gegen „Unterdrücker“. Und weil es ja weniger um den Ausschluss von Einzelnen sondern vor Gruppen geht, hier:
  3. Kleiner Exkurs zum Thema Identität Identität, noch schwieriger: Gruppenidentität, ist ja ebenfalls notwendiger Baustein für die politische Auseinandersetzung. Und hier kommt die Kunst, hier kommen vor allem Künstlerinnen ins Spiel. Identität könnte als anerkannte Ungleichheit bezeichnet werden. Ich bzw. wir sind anders als eine von uns bezeichnete Gruppe oder Klasse von z.B. Kapitalisten, Rassisten etc., gegen deren folgenreiches Agieren (Umverteilung nach oben, Schnüren von Fremdenrechtspaketen) wir uns zur Wehr setzen (wir benennen uns selbst natürlich auch, identifizieren uns). Unsere Abwehr bleibt zunächst ohne direkt spürbare Folgen, was auch heißt: wir sind ziemlich machtlos. Wir zählen uns also zu einer machtlosen, nicht ernst genommenen Gruppe, identifizieren uns mit einem Status, den wir natürlich ablegen wollen. (Nancy Fraser: Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma in: Die halbierte Gerechtigkeit, 2001). Wollen wir Macht umverteilen oder wollen wir als „Feministinnen“ anerkannt werden? Wir wollen beides, und es passiert auch beides. Wenn wir nach Gerechtigkeit streben, binden wir andere „unterdrückte“ Gruppen mit ein und verlieren dadurch die scharfe Kontur unserer Gruppe. Wenn wir als andere anerkannt werden wollen, schotten wir uns als Gruppe im Rahmen klarer Wiedererkennungsregeln ab. Nancy Fraser hat diese Entwicklung detailreich am Beispiel des Feminismus geschildert und das Bild entworfen von einer kontrapunktisch sich ständig differenzierenden und entdifferenzierenden Bewegung, die ständig auch neue Unterdrückung und Ausschlüsse generiert, die wiederum neue Identitäten hervorbringt und neue Kämpfe. Entwickelt wird dabei jedenfalls die Befähigung, sich selbst zu benennen und sich Identität so zu verschaffen.
  4. Orte der Kunst und politische Wirkung Zu diesem Identitätsbegriff steht nicht nur der herkömmliche Genialitätsbegriff des künstlerischen Diskurses vom 19. Jahrhundert bis jetzt im Gegensatz, in dem das Subjekt aus sich selbst heraus schafft (Metareligion!). Er widerspricht auch dem spätkapitalistischen (gegenwärtigen) „sich selbst zur Identität ab-richten“ mit Hilfe von Produkten und Labels. Der Markt nimmt solche Identitäten übrigens ernst, er glaubt an die äußere Erscheinung als Hinweis auf einen inneren dauerhaften Charakter des Individuums und beforscht diesen Charakter eifrig, um ständig entsprechende neue Konsumangebote machen zu können. Kunst kann sich zwischen politische Gruppenidentitäten und gekaufte Distinktionsmöglichkeiten stellen. Sie rekurriert - ironisch oder nicht - auf das geniale Subjekt, dem der Markt hinterher jagt, und sie weiß um die Produktivität politischer Identitäten im Kampf um Anerkennung oder Umverteilung. Sie kann jene öffentlichen Räume bespielen, die den politischen Gruppierungen weit gehend abhanden gekommen sind, weil sie vom Medien-Markt-Komplex aufgekauft wurden. Sie tut dies, indem sie einerseits im institutionellen Kontext arbeitet und diesem differenzierend eine nicht-institutionelle Schiene gegenüber stellt, die wiederum weiter auszudifferenzieren wäre. Wer könnte das besser als Künstlerinnen, die einen steinigen Weg von ihrer Reduktion auf einen naturhaften Körper bis hin zu einem Ausdruck (auch) eben dieser körperlichen Materialität als Zeichen durchlaufen haben. Das unausgereifte Drama sexueller Differenz, von dem Judith Butler spricht, ist teilbar genug, vervielfältigbar genug, um produktive Differenz – im Sinn der Politik wie im Sinn des Marktes zu schaffen.
  5. Solidarität Ist ein zentraler Wert, eine Weiterentwicklung der aufklärerischen „Brüderlichkeit“ und verankert z.B. in der österreichischen Bundesverfassung im Rahmen der Sozialversicherungsgesetze. Bei aller Unzulänglichkeit im Detail ist das Prinzip der Solidarität da im Verfassungsrang. Das Vorgängermodell der Solidarität ist die Mildtätigkeit. Erzwungene Solidarität kann zwar als kleine Perversion angesehen werden, denn im Grund beinhaltet dieses „Einstehen für andere“ die Freiwilligkeit. Und zwar aus der Einsicht heraus, dass es mir umso besser geht je besser es meiner Umgebung geht und umgekehrt. Das stimmt ökonomisch und emotional, das stimmt individuell wie auf Ebene der Volkswirtschaften (oder Märkte). Es stimmt allerdings nur auf eine längerfristige Sicht und sicher nicht an den täglich geöffneten Börsen. Solidarität hat traditionell diesen materiellen Aspekt von Versicherung, Gewerkschaft und ähnlichem und diesen schicksalshaften der physischen Existenz. Ich möchte anregen, partielle und immaterielle Solidarität ins Auge zu fassen und zu üben. Netzwerke und zur Allianzen: siehe Artikel Allianzenbildung Festival-Site
 
 

 

Aktivität: